Samstag, 7. Mai 2011

Recht ohne Gesetzbuch

Keiner kann behaupten, dass Diebe in Bolivien nicht gewarnt werden. In Städten wie La Paz und El Alto haben die Bewohner menschengroße Puppen an Strommasten und Straßenlaternen aufgehängt. Auf Schildern steht geschrieben: "Wer beim Diebstahl erwischt wird, wird gelyncht und bei lebendigem Leibe verbrannt."


Und tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass der Mob einen auf frischer Tat ertappten Dieb umbringt. Lynchjustiz. Der Staat ist schwach hier.

Wenn über Lynchjustiz in Bolivien gesprochen wird, fällt meist gleich ein Begriff: indigene Justiz. Auch deutsche Medien stellen beides ganz gerne als dasselbe da. Das birgt Sprengstoff.

Denn mit der neuen Verfassung ist formal die seit Jahrtausenden ausgeübte traditionelle indigene Justiz der Dorfgemeinschaften der westlich geprägten ordentlichen Rechtssprechung gleichgestellt. Ein wichtiger Schritt im Zuge der "Dekolonisierung", mit der der indigene Präsident Evo Morales und seine Mitstreiter die Kolonialgeschichte abschütteln und selbstbestimmt in die Zukunft schauen wollen.

Jetzt gelten, zumindest theoretisch, 37 verschiedene Rechtssysteme in Bolivien. Die indigene Justiz ist schnell, billig und gerecht, sagen die Befürworter. Es mag sein, dass sich manche nun berechtigt fühlen, mit Dieben ganz kurzen Prozess zu machen. Viele Menschen haben ihre ganz eigenen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit Doch Lynchjustiz mit indigener Justiz gleichzusetzen, ist mit Sicherheit nicht richtig.

Die indigene Justiz ist zwar mündlich, aber sie folgt durchaus Regeln, es gibt einen Prozess. Recht gesprochen wird auf der Dorfversammlung.


Der Dorfvorsteher von Yaurichambi im Andenhochland trägt eine Peitsche auf dem Rücken, als Zeichen seiner Macht und Autorität. Peitschenhiebe sind eine traditionelle Strafe.


Aber eingesetzt sei die Peitsche schon lange nicht mehr, sagt er. Stattdessen müssen die Verurteilten meist den Schaden wiedergutmachen und als Strafe Lehmziegeln herstellen oder andere Dienste für die Dorfgemeinschaft leisten.

Aber kennt die indigene Rechtsprechung nicht auch die Todesstrafe? Wurde in Bolivien indirekt also die (offiziell ausdrücklich verbotene) Todesstrafe legitimiert?

Liborio Uño, Leiter des Programms "Ursprüngliches Recht" an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz, hat dazu eine ganz eigene Meinung.


Eine Geschichte über Missverständnisse, unterschiedliche Auslegungen und viel Unwissenheit.

Zum Anhören gibt's sie hier bei DRadio Wissen. Oder hier direkt als mp3-Datei.
"Alles, was Recht ist": Gedruckt ist die Geschichter in der schweizer WOZ erschienen. Das pdf gibt's hier.