Montag, 26. Juli 2010

Gerechtigkeit um jeden Preis

Mord gehört zum Alltag in Venezuela. Und die Mörder bleiben fast immer in Freiheit. Wer gegen die Straflosigkeit kämpft, begibt sich in Gefahr.


Victor Martínez tupft sich den Schweiß von seiner Stirn, blickt auf den Blackberry in seiner Hand und greift dann nach dem Handy auf dem Schoß. Nebenbei schafft er es irgendwie, seinen dicken Geländewagen zu lenken, und sei es, dass er auf zwei Spuren gleichzeitig fährt. Victor Martínez ist 61 Jahre alt, ein bulliger Mann mit Glatze und einer Brille vor den müden Augen. In seinem Hosenbund steckt ein Revolver.

Er kommt zu spät, die anderen haben schon angefangen. Im Kreis sitzen Frauen und Männer, deren Söhne oder Enkel unter dubiosen Umständen verschwunden sind oder erschossen wurden - mutmaßlich von der Polizei. An die 400 Fälle hat das "Komitee der Opfer gegen die Straffreiheit" in den vergangenen fünf Jahren zusammengetragen. Es trifft sich jeden Dienstagnachmittag hier in Barquisimeto, der viertgrößten Stadt des Landes, gelegen auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt Caracas und dem Lago Maracaibo, wo das Öl sprudelt. Die Komiteemitglieder planen Demonstrationen und Mahnwachen. Sie wollen erreichen, dass man sie hört.

Victor Martínez hat die Gruppe von Anfang an unterstützt - noch bevor sein Sohn umgebracht wurde. Das ist jetzt mehr als ein halbes Jahr her.

Mijail Martínez war Filmstudent und arbeitete an einer Dokumentation über die Opfer von Polizeigewalt. Auch er war Mitglied des Komitees. Er war schüchtern, ein verträumter Lockenkopf, eher der Außenseitertyp. Aber er hatte ein paar gute Freunde und liebte Rockmusik, er spielte Gitarre in einer Band.

Das Barrio Ezequiel Zamora ist ein ruhiges Stadtviertel mit kleinen einstöckigen Häusern. Am 26. November 2009, kurz nach sieben Uhr, will Mijail Martínez seine Mutter zur Arbeit bringen. Heute ist er früher fertig als sie, das passiert sonst nie. Er fährt das Auto aus der Einfahrt und wartet. Im Haus hört seine Mutter fremde Stimmen, schaut nach draußen. Sie sieht ihren Sohn, der mit dem Rücken zu ihr steht, und sie sieht einen Mann, der auf ihn schießt. Sie schreit: "Mijail! Mijail!"

Drei Schüsse fallen. Eine 9-Millimeter-Kugel schlägt im Tor ein, zwei Kugeln treffen Mijail in Brust und Schlüsselbein. Als die Familie mit ihm in der Klinik eintrifft, ist er schon tot. Ein paar Tage später wäre er 24 Jahre alt geworden.

Im vergangenen Jahr wurden in Venezuela mehr als 16.000 Menschen ermordet, die Pro-Kopf-Quote ist eine der höchsten weltweit. Nachts herrscht in vielen Städten quasi Ausgangssperre. Bei über 90 Prozent der Morde wird kein Verdächtigter verhaftet, zu einer Verurteilung kommt es noch seltener. Deshalb wäre der Fall von Mijail Martínez eigentlich nichts Besonderes. Das Besondere ist, dass in diesem Fall einer alles daran setzt, die Schuldigen zu überführen. Der Vater, Victor Martínez.

Die Polizei präsentiert erst einen Verdächtigen, der es gar nicht gewesen sein kann. Dann heißt es: Es war versuchter Raub, Mijail Martínez habe sich gewehrt, deswegen wurde er erschossen. Nichts Besonderes. Aber wieso sollte auf zwei Männer, die ein Auto rauben wollen, um die Ecke ein Fluchtwagen warten? Mijails Eltern sind sich sicher: Es war ein sicariato, ein Auftragsmord. Und der eigentliche Adressat war Vater Victor. Er sollte endlich still sein.

Einst war Victor Martínez Kämpfer für die "bolivarische Revolution" von Präsident Hugo Chávez und saß für dessen Partei im Regionalparlament von Lara. Doch im Jahr 2007 initiierte er einen Untersuchungsausschuss mit, der sich mit Korruption und Gewalt im Polizeiapparat beschäftigte. Mehr als 200 Fälle von "Zusammenstößen" mit der Polizei wurden erfasst, die, so der Ausschussbericht, in Wahrheit Hinrichtungen waren. Dort ist auch von Verstrickungen in den Drogenhandel und Folter die Rede. Als Drahtzieher der Polizeibande benannte der Untersuchungsbericht Jésus Armando Rodríguez Figuera, General der Nationalgarde und Expolizeichef von Lara. Er soll von dem damaligen Gouverneur Luís Reyes Reyes gedeckt worden sein. Die Beschuldigten haben sich nie konkret zu den Vorwürfen geäußert - und Martínez wurde aus der Chávez-Partei geworfen.

Nach dem Tod seines Sohnes geht Victor Martínez in die Offensive. Er macht das, was er seit Jahren in seiner regionalen TV-Sendung macht: Er klagt an, er nennt Namen und geht so weit, dass er in einem Fernsehinterview von der Moderatorin zurechtgewiesen werden muss.

In Barquisimeto haben alle vom Tod von Mijal gehört. Die Presse hat berichtet, dass das Komitee Gedenkveranstaltungen organisiert. Menschenrechtsorganisationen haben sich des Falls angenommen, Amnesty International hat einen Aufruf in die Welt geschickt. Aber geklärt wurde der Fall nicht. Warum nicht?

Für die Aufklärung von Verbrechen ist in Venezuela die Ermittlungspolizei CICPC zuständig. Der Chef der lokalen Einheit, Argenis Colmenarez, sitzt an seinem Schreibtisch, hinter ihm hängt ein großer Spiegel, ihm gegenüber laufen auf einem Flachbildschirm Musikvideos. Der Fall Mijail Martínez sage ihm gar nichts, beteuert er. Er sei ja auch erst seit drei Wochen hier, Routinewechsel auf der Leitungsebene. Ob er eine Vorstellung davon habe, wie viele seiner Leute selbst Straftaten begehen? Schließlich spräche selbst der Innenminister davon, dass Polizisten für 20 Prozent aller Straftaten verantwortlich sind. Der Polizeichef zögert keine Sekunde: "Die sind alle sauber." Sein Telefon klingelt. "Stets zu deinen Diensten!" Er hebt ab und lacht.

Victor Martínez sitzt zu Hause am Esszimmertisch, dreht sich immer wieder schnell um und schaut nach draußen auf die Straße. Er sagt: "Ich habe keine Angst. Wenn es dich trifft, trifft es dich." Seine Familie versucht, ein normales Leben zu führen. Aber das ist nur Fassade.

Da er in die Polizei keine Hoffnung setzt, hat Martínez selbst ermittelt. Er wisse jetzt, wer die Täter sind, sagt er, und wer die Auftraggeber. Er holt Fotos aus einer Plastikmappe und breitet sie auf dem Tisch aus. Da liegen die Verdächtigten auf der Blumentischdecke: junge Auftragskiller, ihr Auftrag kam aus dem Polizeiapparat und die Strippenzieher sitzen weiter oben in der Hierarchie. Für Martínez ist alles klar, aber was soll er tun? "Ich könnte sie umbringen", sagt er. "Aber das wäre unmoralisch." Pause. "Und ich will an die Hintermänner ran." Dafür hat er sich Verbündete gesucht, eine ist die oberste Staatsanwältin des Bundesstaates.

Martínez will Lucila Sirit de Orozco ein paar Unterlagen vorbeibringen. Ihr Büro liegt im vierten Stock eines schmalen Betonturmes in der Innenstadt, der Aufzug funktioniert nicht, man muss die Treppe nehmen. Martínez keucht. Die Staatsanwältin begrüßt er mit Küsschen auf die Wange. Sie wählt ihre Worte sehr genau. "Wir ermitteln im Fall Mijail Martínez ohne die Polizei", bestätigt sie. Weil sie in die Sache verwickelt ist? "Wir ermitteln alleine, mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen."

Wie soll es Gerechtigkeit geben in einem Land, in dem die Staatsanwaltschaft der Polizei nicht trauen kann? Selbst wenn Staatsanwaltschaften und Gerichte guten Willens sind, können sie nicht viel ausrichten: Sie sind gnadenlos überfordert. Auf Martínez Bestreben hin beschäftigt sich inzwischen eine Untersuchungskommission der Nationalversammlung mit dem Tod seines Sohnes.

Martínez sitzt in seinem kleinen Zimmer auf dem Bett, der Ventilator bläst ihn an, er schaut sich Filme von seinem Sohn an. Sein Kopf zuckt. Eigentlich müsste er sich zurücknehmen, denn er macht seine Gesundheit kaputt, aber das ist ihm egal. Er hat nur noch eine Aufgabe: Gerechtigkeit für Mijail. Auf der Straße klopfen ihm Leute auf die Schulter. Andere wenden sich ab, aus Angst mit hineingezogen zu werden in eine Sache, die ihnen gefährlich werden kann. Nebenan, in Mijails Martínez Zimmer, ist alles noch so eingerichtet, wie es war. Im Regal stehen DVDs und MiniDV-Bänder und oben drauf die Engelsfiguren, die er so gern hatte. An der Wand ein Poster mit Mijails Antlitz und seinem Geburts- und Todesdatum.

Die Männer, die Victor Martínez als Hintermänner des Mordes verdächtigt, haben Karriere gemacht. Exgouverneur Reyes Reyes wurde erst als Minister in das Präsidialamt geholt, war dann für einige Monate Gesundheitsminister und soll jetzt als Spitzenkandidat in Lara die Sozialisten (PSUV) zum Sieg bei der Parlamentswahl im September führen. Expolizeichef Rodriguez Figuera arbeitet heute im Lagezentrum des Präsidentenpalastes. Beide sind seit langem enge Vertraute des Präsidenten.

Victor Martínez hat einst Hugo Chávez bei sich übernachten lassen. Er hat ihm geholfen, an die Macht zu kommen. Jetzt bezeichnet er ihn mit Begriffen, von denen "Schurke" noch der netteste ist.

Victor Martínez holt ein paar Hefte mit Gedichten von Mijail. Dass er Poesie geschrieben hat, das wusste fast keiner, als er noch lebte. Jetzt will sein Vater die 258 Gedichte als Buch herausbringen. Einen seiner Sätze haben sie auf seinen Grabstein geschrieben: „Der Tod bedeutet totale Freiheit, aber vorher kommt das Jüngste Gericht.“

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Todesursache: Mord

Die Mordstatistik: Venezuela ist eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Im vergangenen Jahr wurden 54 Morde pro 100.000 Einwohner verübt - ähnliche Zahlen findet man nur in El Salvador, Honduras und Jamaika. Die Organisation Observatorio Venezolano de Violencia beruft sich auf die internen Polizeistatistiken, offiziell gibt es keine Zahlen. Für junge Männer ist Mord die häufigste Todesursache. Während in anderen lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien oder Kolumbien die Zahl der Morde sinkt, ist sie in Venezuela in den vergangenen zehn Jahren stark angestiegen. Im Jahr 1998 lag die Quote noch bei 20 Morden pro 100.000 Einwohnern. Zum Vergleich: Weltweit sind es 8,8 Morde pro 100.000 Einwohner, in Deutschland weniger als einer.

Die Strafverfolgung: Experten vermuten eine große Dunkelziffer bei der Kriminalitätsstatistik. Viele Verbrechen werden nicht zur Anzeige gebracht. Und Tod durch "Widerstand gegen die Staatsgewalt" etwa fließt in die Mordstatistik grundsätzlich nicht ein. Schätzungen zufolge liegt die Aufklärungsquote bei Mord bei nur drei Prozent. Wenn Polizisten an den Taten beteiligt sind, ist die Straflosigkeit noch größer, erklärt der Soziologe Luis Cedeño. Laut Umfragen ist die Unsicherheit im Land eines der größten Probleme für die Venezolaner. Die Staatsanwaltschaft ist dabei, eine eigene Ermittlungseinheit zu gründen, um Kriminalität im Polizeiapparat besser verfolgen zu können

(Erschienen am 26.07.2010 in der tageszeitung und auf taz.de)

Dienstag, 6. Juli 2010

Drei Fragen an den Präsidenten

Zum Leidwesen vieler Journalisten sind die Medien in Venezuela extrem polarisiert. Darunter leidet die journalistische Qualität



Eigentlich sollte der "Tag des Journalisten" in Venezuela ein Tag des gemeinsamen Feierns sein. Doch als die Mitglieder des Berufsverbandes CNP am Sonntag vergangener Woche in einem Sternmarsch zum Sitz des TV-Nachrichtenkanals Globovisión zogen, waren nicht alle Kollegen dabei. Globovisión fährt einen harten Oppositionskurs zum Staatspräsidenten Hugo Chávez. Die Mitarbeiter dort haben Angst, dass der Sender geschlossen werden könnte. Für jene Journalisten, die Chávez’ "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" unterstützen, hat der Sender längst seine Daseinsberechtigung verloren.

Wie die Polarisierung Venezuela im Griff hat, wird an Szenen wie dieser deutlich: Vor ein paar Wochen hatte Adriana Núñez, eine junge Reporterin des TV-Senders Televen, die seltene Gelegenheit, Chávez bei einer Pressekonferenz zu befragen. Alle Kanäle waren live auf Sendung, Núñez war nervös. Sie wollte wissen, was es mit dem "kommunalen Parlamentarismus" auf sich hat, ob die 40-Prozent-Gehaltssteigerung für die Soldaten auf andere Staatsbedienstete ausgeweitet wird und was eigentlich die Kubaner genau in der venezolanischen Armee machen. Chávez entgegnete, er wisse 20 bessere Fragen. Dann zog er in einem langen Monolog über die Eigentümer des Kanals her, sie seien Putschisten und Oligarchen. Ein Begriff durfte auch nicht fehlen: Medienterrorismus. Núñez schluckte nur.

Die 26-Jährige ist für die Berichterstattung über den Präsidenten zuständig, aber sie hat keinen einzigen Kontakt in der Regierung, der sie zumindest informell mit Informationen versorgen könnte. Früher, so erzählen ältere Kollegen, konnten Journalisten im Präsidentenpalast frei bewegen, heute bekommt man vom Pressesprecher eines Ministers oft nicht einmal einen Rückruf.

Der Konflikt zwischen Chávez und den privaten Medien begann bald nach seinem Amtsantritt 1999. Der Präsident bezeichnete sie als "Feinde der Revolution", die meisten unterstützten 2002 aktiv oder passiv den Putsch gegen Chávez. Während dieser betont, dass nirgends auf der Welt die Pressefreiheit größer sei als in Venezuela, beklagen sich Journalisten, dass die Ausübung ihrer Arbeit immer schwieriger wird.

Auf der Rangliste der Pressfreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Venezuela auf Platz 124 von 175 Ländern, 2009 gab es laut der venezolanischen Organisation Espacio Público insgesamt 246 Fälle, in denen die Pressefreiheit verletzt wurde, darunter körperliche Angriffe auf Journalisten. 34 regierungskritischen Radiostationen wurde die Lizenz entzogen oder nicht verlängert.

Dass der Zugang zu Informationen nicht leicht ist, muss selbst Harin Rodriguez de Santiago zugeben, Redaktionsleiter beim staatlichen Radio RNV. "Die Regierung müsste sich viel weiter öffnen", sagt der 32-Jährige. Der Chef von 80 Journalisten empfängt im Eingangsbereich des Senders, auf dem Tisch liegen Broschüren, in denen eine Chávez-Rede abgedruckt ist. Rodriguez engagiert sich in der chavistischen "Bewegung für den notwendigen Journalismus" und sagt, er könne viel eher Journalismus für das Volk machen als seine Kollegen bei privaten Medien, wo alles von den "ökonomischen Interessen der Chefs abhängt."

In Venezuela ist einseitige Berichterstattung an der Tagesordnung. Die staatlichen Medien übertragen stundenlang Ansprachen des Präsidenten, die Privaten vergleichen Chávez gerne mal mit Mussolini oder Hitler. Manche Privatsender, darunter Venevisión und Televen, achten seit einer Weile peinlich darauf, beiden Seiten dieselbe Sendezeit einzuräumen. Fest steht aber: Gute Recherche oder gar investigativer Journalismus ist Mangelware. Dabei wäre das gerade jetzt notwendig, es ist Wahlkampf für die Parlamentswahl im September.

"Man muss sehr aufpassen, was man sagt", beklagt die Fernsehreporterin Núñez. Es kann Strafen hageln, wenn Nachrichten gesendet werden, die die öffentliche Ordnung stören oder die Sicherheit des Staates gefährden. Der Interpretationsspielraum dabei ist groß. Und einem Sender kann die Verlängerung der terrestrischen Lizenz verweigert werden. So erging es 2007 RCTV, der nach seiner Unterstützung des Putsches kritisch blieb. Inzwischen ist er auch nicht mehr im Kabelnetz vertreten.

Was ist die Folge des Drucks? Cecilia Caione zögert nicht: Selbstzensur. Caione arbeitet für die Últimas Noticias, die größte Tageszeitung im Land. Selbst will sie weiter alles schreiben, aber an manchen Tagen hat sie einfach keine Lust, eine Beleidigung als Antwort zu bekommen. Dann stellt sie eben keine Frage. "Aber das ist doch schlimm", sagt sie, "denn dann informierst du nicht."

(Erschienen am 06.07.2010 online bei der Frankfurter Rundschau und in leicht gekürzter Fassung in der Berliner Zeitung.)